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- Auf Kosten der Anderen
Digitale Nomaden verkaufen auf sozialen Medien das Bestreben des guten Lebens, ohne viel dafür zu tun - und wenn, dann zumindest vor einer traumhaften Kulisse. Wer dafür zahlt, geht dabei vergessen. Eine kritische Auseinandersetzung. Ende Januar 2021, als die Pandemie in vollem Gange war, stiess ich auf einen Artikel. Darin geht es um zwei Influencerinnen, die von der indonesischen Regierung abgeschoben wurden, weil sie gegen die örtlichen Corona-Massnahmen verstossen hatten. Schlussendlich wurden die beiden aber auch wegen Steuerhinterziehung und illegalem Aufenthalt auf der Insel Bali des Landes verwiesen. Eine der beiden Influencerinnen, eine Afroamerikanerin, soll während ihrer Zeit auf Bali ein Buch mit dem Namen "Our Bali Life is Yours" herausgegeben haben, in dem sie unter anderem ihren Lebensstil mit niedrigen Lebenskosten auf der Insel im indischen Ozean propagiert haben soll. Der Rausschmiss der Autorin des Buches und ihrer Freundin aus Bali hat auf den sozialen Medien zu einer heftigen Debatte geführt, worauf ich mir die Frage gestellt habe, ob ein digitaler Nomade* überhaupt so leben kann, dass er keinen Schaden anrichtet. Länder wie Argentinien mit einer hohen Inflationsrate sind bei digitalen Nomaden besonders beliebt (Foto: Pexels) Auch Kolumbien bietet seit letztem Jahr ein Visa als "Nómada Digital" an. Dieses ist gültig für ein Jahr (mit Verlängerung) und bewilligt die Ausübung eines Jobs mit ausländischem Arbeitgeber im Land. Steuern bezahlt man nur auf die Vermögenswerte und diese sind verhältnismässig gering. Permakultur als "Revolution" An der Karibikküste Kolumbiens im ehemaligen Konfliktgebiet zwischen Santa Marta und Riohacha leben Hunderte von Europäer*innen und Nordamerikaner*innen und propagieren einen "revolutionären" Lebensstil in scheinbar autarken Wohngemeinschaften, wo sie ganze Siedlungen aufbauen, indem sie Land kaufen, um dort dann Permakultur und Reforestierung zu betreiben. Finanziert wird das alles entweder durch ein ausländisches Einkommen aus einem ökonomisch stärkeren Land oder durch das mit Ersparnissen finanzierte Aufkaufen von Land, worauf dann Hotels gebaut werden, um weitere europäisch-amerikanische Touristen zu beherbergen. Auf diesem Gebiet werden immer wieder "Líderes Sociales" (soziale Anführer*innen) umgebracht. Diese verteidigen ihre Gebiete und die Menschenrechte der indigenen Gruppierungen in der Region oder setzen sich für die Umwelt ein. Auch wenn die Demobilisierung der Paramilitärs fast zwei Jahrzehnte zurückliegt, herrschen in diesen Gebieten paramilitärische Strukturen. Das Land, auf dem die Einwanderer*innen und reichen Kolumbianer*innen ihre Hotels eröffnen, ist fast immer illegal erworben und muss zuerst - mit Bestechung - legalisiert werden, weil es während 50 Jahren bewaffneten Konflikts in Kolumbien Bauern oder Indigenen entwendet wurde. Hier wird doppelt weggeschaut Um die örtliche Realität zu ignorieren, muss doppelt weggeschaut werden. Dass an der Küste Schutzgeld bezahlt wird, ist kein Geheimnis. Nebst europäisch-amerikanischen Einwanderern kaufen auch Kolumbianer*innen Land in diesem Gebiet. Diejenigen Kolumbianer*innen, die an der Küste leben und ihrem Yoga-Lifestyle folgen, stammen nicht von dort. Sie kommen aus den grossen Städten. Doch ob nun deren Vermögen in Land investiert wird oder ob das Geld von Remote-Jobs eines Einwanderers stammt - das Prinzip bleibt dasselbe. Für die Menschen, die an der Küste geboren sind, bleibt dabei nichts übrig. Aus eigener Hand weiss ich, dass die meisten Hotelbesitzer*innen ihren Angestellten den Mindestlohn (ohne Sozialleistungen) bezahlen. Das sind umgerechnet weniger als 220 Franken. Hiervon kann im Land niemand oberhalb der Armutsgrenze leben. Zum Vergleich: 50 Quadratmeter Wohnraum kosten rund 200 Franken. Die teuren Luxusbunker, die sich an der Küste von Santa Marta bis zum illustren Fischerdorf Palomino kurz vor Riohacha erstrecken, führen zu einer Verteuerung des ganzen Sektors, während die Inflation im Land weiter voranschreitet. Kaum ein*e Angestellt*e kann sich eine Coca Cola am Arbeitsort leisten. Dies wiederum führt folglich dazu, dass im Ferienparadies eine Zweiklassengesellschaft herrscht. Weisse, einkommensstarke Kolumbianer*innen treffen sich mit den Einwanderern zu Energieritualen und spirituellen Heilungen. Oftmals wird das Wissen von indigenen Heilern mit einbezogen. Sie werden im Voraus auf Flyern angekündigt. Die digitalen Nomaden erscheinen zahlreich. Anlässe wie "Ecstatic Dance" - ein nüchternes, extatisches Tanzen - und Tee-Zeremonien gehören zur Tagesordnung. Da diese Anlässe alle ein kommerzielles Ziel verfolgen, ist es leider nichts anderes als kulturelle Aneignung. Und wenn am Abend dann das Kokain der Region gezogen wird, werden auch mal zwei Augen zugedrückt, wenn es um die politischen Folgen der Droge im Land geht. Es erstaunt nicht, dass die Karibikküste Kolumbiens Menschen aus aller Welt anzieht - Tayrona Nationalpark, Santa Marta (Foto: Pexels) Nachhaltiger Tourismus - eine Utopie Grundsätzlich kann gesagt werden: Würde es echten nachhaltigen Tourismus geben, gäbe es keine digitalen Nomaden mehr. Denn das Einkommen eines jeden digitalen Nomaden, trägt zur Gentrifizierung des Ortes bei. Santa Marta ist Stand 2021 die teuerste Stadt von ganz Kolumbien, während die Armmutsquote bei rund 45 Prozent liegt. Beschönigungen wie "Tourismus macht die Region sicherer" oder "Kolumbien profitiert von der Wirtschaft, die durch den Tourismus angekurbelt wird" gelten nicht, denn sie kompensieren einfach nicht den Schaden, den digitale Nomaden in Kolumbien und anderen "Ferienparadiesen" der Welt anrichten. Wenn sich Menschen aus dem globalen Norden in Ländern des globalen Südens niederlassen, ist das immer Neokolonialismus, weil sie einerseits ihre Privilegien ausnutzen und sich andererseits die lokalen wirtschaftlichen und politischen Strukturen zunutze machen. So befeuert ein digitaler Nomade die ökonomische Ausbeutung der Menschen vor Ort. Ob bewusst oder unbewusst: die Konsequenz bleibt die gleiche. Und das gilt für alle: Ob es nun zwei Influencerinnen auf Bali sind, die einen Matcha-Kapitalismus-Lifestyle propagieren oder die Revolutionär*innen, die weit weg von der Gesellschaft leben und versuchen, mit Permakultur die Welt zu retten. Das kann man sich nicht schönreden Natürlich stellt sich für die Leser*innen hier die Frage nach meinem eigenen Dasein als digitaler Nomade während meiner Zeit in Lateinamerika. Und ich kann es nicht schönreden. Nachdem ich im Jahr 2020 aus ideologischen Gründen, inspiriert vom Sozialen Aufstand in Chile, nach Lateinamerika ausgewandert bin, hatte ich erstens das Privileg, in die Schweiz zurückzukehren, falls es brenzlig wird, und kurz nach dem ersten Lockdown im Jahr 2021 habe ich einen Vertrag für einen Schweizer Remote-Job unterschrieben. Ich war also zu keiner Zeit den wirklichen Gegebenheiten der Einheimischen unterlegen. Die Pandemie setzte auch den Anfang meines Konflikts mit mir selber. Denn es ist doch so: Egal wer und mit welchem Motiv mit einem Einkommen aus dem globalen Norden in einem Land des globalen Südens lebt, ist Teil des Problems, und je länger ich darüber nachgedacht habe, wurde ich selber zum Problem. In meinem Fall führt dies zur Gretchenfrage jedes Journalisten und jeder Journalistin. Ist es in Ordnung, über Misstände zu schreiben, ohne einzuschreiten? Ich musste mir die Frage immer wieder stellen - und ich kann sie auch heute noch nicht beantworten. Schönreden kann man sich ein Dasein als digitaler Nomade jedenfalls nicht. Hinter den üblichen Rechtfertigungen steckt meistens ein Haufen Doppelmoral. In meinem Fall ist diese Problematik jedenfalls auch einer der Gründe, weshalb ich mich nach drei Jahren dazu entschlossen habe, in die Schweiz zurückzukehren. *im Text habe ich der Einfachheit halber die männliche Form zur Bezeichnung verwendet, weil der Begriff aus dem Englischen stammt.
- Das Trauma lauert im Gebärsaal
Ich liege in der Aufwachstation neben zwei Frauen. Einer, die ebenfalls gerade Mutter wurde und einer anderen, die Laute von sich gibt, als würde sie leiden, ich aber nicht zuordnen kann, weshalb. Abgetrennt bin ich von den beiden nur durch ein dünnes Stück Stoff, so wie es auf einer Notfallstation üblich ist. Es ist der Aufwachraum der Frauenklinik in Santa Marta an der Karibikküste Kolumbiens. Mein Bauch schmerzt, wie als hätte mir jemand mit einem Gewehr ein Loch reingeschossen. Mein Sohn wurde um 11:43 Uhr per Kaiserschnitt auf die Welt geholt, mittlerweile ist es kurz nach 17:00 Uhr. Meine Beine kann ich nach der Narkose langsam wieder bewegen, doch mit dem Gefühl in den Beinen kommt auch der Schmerz. Und dieser ist mittlerweile so stark, dass ich am ganzen Körper zittere. Seit etwa einer Stunde liegt mein Sohn neben mir in einem Beistellbettchen aus Plastik. Doch ich kann ihn weder heben noch zu mir nehmen, die Wunde am Bauch lässt mich ihn nur anstarren. Am Ende des Schlauchs, der in meiner Vene endet, hängt ein Pack mit Antibiotika-Lösung, Schmerzmittel geben sie mir keine. Jedes Mal, wenn ich den Kopf hebe, um eine Krankenschwester zu rufen, befiehlt sie mir im Vorbeilaufen, ihn abzulegen. Offenbar, weil ich sonst zu viel Luft schlucken würde. Ich bleibe liegen und starre weiter in Richtung meines Sohnes. Nichts als Frustration Zwei Stunden später hat sich mich noch immer niemand angenommen. Ich zittere mittlerweile so stark, dass ich mich kaum noch still halten kann. Mein Sohn weint und ich versuche ihn mit meinen Worten zu beruhigen, doch ich bin so frustriert, dass meine Stimme bricht. Die Schwester antwortet mir zum dritten Mal: "Ya voy, mami". (Ich komme gleich, Mami). Die Koseform "Mami", "Mamita" und "Papi" wird in Kolumbien oft im kinderärztlichen Umfeld verwendet. Aber auch Kinder oder Partner werden mit Mami und Papi angesprochen - es ist eine Ausdrucksform der Zuneigung. So angesprochen zu werden, während ich die wirklich schlimmsten Schmerzen meines Lebens habe und mir niemand hilft, obwohl ich darum bitte, hat etwas Grausames. Ich sage mir, dass tausend andere Frauen hier diese Schmerzen schon ertragen haben. Während ich das denke, fängt die Frau neben mir an zu weinen. Auch sie wartet auf Medikamente. Der Betrieb, der hier aufrechterhalten wird, hat keine Zeit für Menschlichkeit. Eine weitere Stunde später kommt endlich die Krankenschwester und hängt Tramadol, ein Opioid, das als starkes Schmerzmittel eingesetzt wird, an meinen Schlauch. Weil ich sie darum bitte, mir meinen immer noch weinenden Sohn auf die Brust zu legen und ich ihn dann vermutlich nicht so halte, wie man das macht, sagt sie mir auf Spanisch: "Du bist Erstgebärende, nicht wahr?" und geht wieder. Die Stunden vergehen. Schlussendlich weiss ich nicht, welcher Moment dieses Tages der Schlimmste war. Ein Monat zuvor, im Juni 2023, hatte ich den ersten Termin beim Gynäkologen in der Frauenklinik. Meine Schwangerschaft war zu diesem Zeitpunkt zu etwas Unerträglichem geworden, weil ich wegen eines starken Reflux während der ganzen neun Monate praktisch nichts essen konnte, ohne es zu erbrechen. Nach zwei Stunden Warten mit zehn anderen Frauen wurde ich endlich aufgerufen. Der Gynäkologe, ein Mann gegen die sechzig, mit dem Ruf, der Beste in Santa Marta zu sein, untersuchte mich und meinte, dass ich normal gebären könne. Die letzte Ultraschalluntersuchung zeigte aber, dass das Kind bereits schwer und gross sei. Sollte ich noch länger warten wollen, sagte er, könne es sein, dass am Termin dann ein Notkaiserschnitt durchgeführt werde. Kolumbien und der Kaiserschnitt Wiegt ein Baby über vier Kilogramm, wird es an der Küste Kolumbiens per Kaiserschnitt geholt. Das statistische Amt in Kolumbien (Departamento Administrativo Nacional de Estadística -DANE) geht im 2021 von einer 46-prozentigen Kaiserschnittrate im Land aus. In Magdalena, dem Departement, wo ich lebe, liegt sie bei ganzen 61,4 Prozent. Mehr als die Hälfte der Kinder kommen hier per Kaiserschnitt zur Welt. Rund die Hälfte der Kinder kommen in Kolumbien per Kaiserschnitt zur Welt. (Bild: Screenshot DANE) Ich war zu diesem Zeitpunkt ziemlich verzweifelt. In Foren hatte ich bereits zu viel über misslungene Not-Kaiserschnitte gelesen, sodass ich mich beim zweiten Termin für einen geplanten Kaiserschnitt entschied. Der Mann vor mir und sein Ruf, der ihm vorausging, weckte Vertrauen in mir. Fairerhalber muss ich sagen, dass ich es auch nicht mehr aushielt, schwanger zu sein. Auch am Tag der Operation hiess es erneut: warten. (Foto: Samina Stämpfli) Die Nacht vor der Operation verbrachte ich wie alle Nächte zuvor mit Erbrechen. Ich hatte ein paar Datteln gegessen, doch auch die kamen hoch. Als ich ein paar Stunden später mit wackligen Beinen vor der Frauenklinik stand, erfuhr ich, dass die Frauen vor Ort wieder alle denselben Termin um die gleiche Uhrzeit hatten. Also auch vor der Operation selber mussten wir warten. Um 7:00 Uhr früh hatte ich seit 12 Stunden nichts mehr gegessen. Meine Laune war so im Keller, dass ich meinen Sohn nur noch raushaben wollte - egal wie. Nach vier Stunden wurde ich als Dritte von sechs Patientinnen in den Operationssaal gebracht. Als ich die Spinalanästhesie in die Rückenmarksflüssigkeit bekam und mir Schwarz vor Augen wurde, hörte ich nur noch, wie das gesamte OP-Team um meinen Gynäkologen über den Kauf einer neuen Maschine für den Operationssaal sprach. Der Eingriff scheint ja wirklich zur Routine zu gehören, dachte ich noch, als mir kurz danach jemand meinen bläulichen Sohn ins Gesicht streckte - zur Kontrolle, dass sie mir danach nicht ein fremdes Kind übergeben. Bonding unmöglich Nach sechs Stunden brachte mich endlich jemand in mein Zimmer, wo mein Mann auf mich wartete. Aufgrund des Kaiserschnitts und der unglaublichen Schmerzen konnte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich Bonding mit meinem Kind betreiben, da mich die Krankenpflegerinnen grösstenteils ignoriert hatten. Bonding nennt man es, wenn die Mutter oder der Vater sich das Neugeborene auf die nackte Brust legen, um Vertrauen und Geborgenheit bei ihm zu erwecken. Bei der Mutter löst dies auch den Milchfluss aus. Das ist wichtig, erst recht nach einem Kaiserschnitt, weil der Körper der Frau eigentlich noch gar nicht auf das Stillen vorbereitet ist und sich der Milchfluss bis sieben Tage verzögern kann. Ich hatte Glück, die Milch kam. Als ein Krankenpfleger kam, sagte ich ihm, dass ich mit der linken Brust Probleme hätte. Ohne etwas zu sagen, nahm er meine Brustwarze in die Finger und zerdrückte sie bis ich schrie. Ich sagte ihm, dass er mir soeben Schmerz zugefügt habe. Er ging, ohne mir zu antworten. An diesem Tag passierte noch viel mehr Die Nachtpflegerin liess mich später am Abend rund 40 Minuten alleine und kam auch nicht, als ich zum zehnten Mal Not-klingelte. Am nächsten Morgen um 04:30 Uhr schaltete sie das Licht ein und schrie uns an, dass wir uns bereithalten sollen, weil der Arzt in zwei Stunden zur Kontrolle käme. Sie weckte meinen Sohn. Die Art, wie sie mir danach den Katheter herausnahm, der standardmässig vor einem Kaiserschnitt verlegt wird, sollte mir noch bis zu zwei Wochen Schmerzen bereiten. Doch das Schlimmste war, dass ich unter irgendwelchen Begründungen rund 18 Stunden nichts zu trinken oder zu essen bekam. Ich war zu müde, um mich zu wehren, und nahm es hin. Als mich der Arzt am nächsten Tag fragte, weshalb ich nichts getrunken habe, wusste ich nicht, was zu antworten. Erst als ich wieder zu Hause war und meinen Sohn anschaute, wurde mir klar, dass eigentlich alles, was vor der Geburt, im Aufwachsaal und im Krankenzimmer danach passierte, missbräuchlich war. Wenn mein Mann nicht für mich da gewesen wäre, wäre ich verzweifelt. Geburtshilfliche Gewalt ist ein Problem - weltweit Doch das, was mir passiert ist, ist kein Einzelfall. In Kolumbien gibt es unzählige Fälle von geburtshilflicher Gewalt (violencia obstétrica). Darunter wird jegliche Form von Gewalt gegen Frauen im Gebärsaal verstanden, wie es der Begriff bereits erahnen lässt. Diese Gewalt wird vom Gesundheitspersonal ausgeübt und betrifft den öffentlichen, aber auch den privaten Sektor. Laut einer Studie fühlten sich sechs von zehn kolumbianischen Frauen im Jahr 2020 in während der Geburt unwohl oder sie wurden beleidigt und gedemütigt - also mehr als die Hälfte. In Venezuela ist geburtshilfliche Gewalt seit 2007 per Gesetz verboten. Argentinien folgte zwei Jahre später mit einem Gesetzesartikel, gefolgt von Mexiko im Jahr 2014. In Europa passierte lange nichts. In einer Resolution kam der Europarat zum Schluss, dass "geburtshilfliche und gynäkologische Gewalt eine Form von Gewalt sind, die lange nicht offengelegt wurde und immer noch zu oft ignoriert wird." In der Schweiz liegen wenige bis keine Daten zu diesem Thema vor. In einer Stellungnahme vom Februar 2020 kommt der Bundesrat lediglich zum Schluss, dass zu wenig Daten vorliegen. Im Schweizer Magazin ellexx hat Journalistin Nadine Jürgensen darüber geschrieben, wie ihr geburtshilfliche Gewalt in der Schweiz widerfahren ist. Im Beitrag zitiert sie eine Studie der ZHAW, laut welcher sogar jede vierte Frau in der Schweiz Gewalt im Gebärsaal erlebt. Das Fehlen von genauen Daten und die laschen Handlungsempfehlungen des Bundes lassen aber darauf schliessen, dass diesem Thema in der Schweiz wenig bis keine Aufmerksamkeit gewidmet wird, weder in Politik noch Gesellschaft. Meiner Meinung nach müsste unsere Gesellschaft grundsätzlich darüber diskutieren, was es bedeutet, ein Kind zur Welt zu bringen. Ein weiblicher Körper benötigt mehr als ein Jahr, um sich von der Geburt und der Schwangerschaft zu erholen, ganz davon abgesehen, was eine Frau psychisch durchmacht. Eine Gesellschaft sollte alles tun, um uns Frauen den ganzen Prozess so fest zu erleichtern, wie es möglich ist. Würden Männer Kinder gebären, würde man den Diskurs um Gewalt im Gebärsaal vermutlich schon lange führen.