Chiles Gesundheitsversorgung fordert jährlich mehrere tausende Tote, denn gerade mal ein Fünftel der Gesellschaft kann sich eine private Krankenversicherung leisten. Doch: Auch wer zu den Priviligierten gehört, ist nicht zwingend auf der sicheren Seite.

Samina Yasmin Stämpfli
17 de mar de 2020
Im Jahr 2013 klagt die 13-jährige Violeta Reyes Ávalos erstmals über starke Schmerzen im Unterbauch. Ihre Mutter, Anwältin Karen Ávalos Rodríguez besucht mit ihr eine Privatklinik in Antofagasta, einer Region im Norden Chiles, wo die Mutter bis heute wohnt. Da sich die Schmerzen von Violeta vor allem im Bereich der Eierstöcke bemerkbar machen, wird sie an einen Gynäkologen vermittelt. Dieser befindet nach einer kurzen Untersuchung, dass solche Beschwerden für ihr Alter normal seien. Er schickt das Mädchen mit Schmerzmitteln nach Hause. Ein ärztlicher Fehlentscheid - doch dazu später mehr.
Die Möglichkeit, eine Privatklinik aufzusuchen, ist in Chile der Oberschicht vorbehalten. Das chilenische Gesundheitssystem ist zweigeteilt, einerseits in private gewinnorientierte Krankenversicherer "Instituciones de Salud Previsional (Isapres)" und in einen öffentlichen Gesundheitsfonds "Fondo Nacional de Salud (Fonasa)", durch welchen die chilenische Mittelschicht, wozu sich rund 85 Prozent der Chilen*innen zählen sowie Arbeitslose und Bedürftige versichert sind. "Fonasa"-Versicherte werden im Krankheitsfall in ein staatliches Krankenhaus eingeliefert und konsultieren öffentliche Ärzte.

Karen und Violeta, 2013 - Foto: Karen Ávalos Rodríguez
Karen Ávalos Rodríguez und ihre Tochter sind bei der «Isapre Cruz Blanca» versichert. Sie gehört damit zu 18.5 Prozent aller Chilen*innen, die sich bei einer "Isapre" versichern können. Die Tatsache, dass die Hälfte der «Fonasa»-Mitglieder weniger als umgerechnet 500 Franken monatlich verdient, verdeutlicht die soziale Trennlinie innerhalb des chilenischen Gesundheitssystems.
Dreifache Benachteiligung von Frauen
Mit ihrem Einkommen von umgerechnet 3‘150 Schweizer Franken im Monat zahlt Ávalos für ihren Gesundheitsplan monatlich umgerechnet etwa 220 Schweizer Franken. Das Kind wird automatisch in die Krankenversicherung eines Elternteils integriert. Bei Frauen wird die Prämie beim Erreichen des dreizehnten Lebensjahres wegen des Risikos einer Schwangerschaft teurer. Sie zahlen bis zu dreimal mehr als gleichaltrige Männer. Frauen werden also bereits im Jugendalter diskriminiert und tragen so auch ein höheres Risiko im Krankheitsfall zu verarmen. Mit ihrer "Isapre", sollte Ávalos medizinisch besser versorgt sein, als diejenigen im "Fonasa"-Versicherungsfonds. Die Realität ist aber eine andere.
Drei weitere "Spezialist*innen" kommen zum selben Schluss
In den zwei Jahren nach dem ersten Arztbesuch hören die Unterleibsschmerzen bei Violeta nicht auf. Ávalos sucht in regelmässigen Abständen drei weitere private Fachärzte in Antofogasta auf. Zwei Gynäkolog*innen und ein Spezialist für Gefässkrankheiten kommen zu ein und demselben Schluss: Die Schmerzen würden aufgrund einer hormonellen Störung auftreten und seien normal für ein pubertierendes Mädchen. Von allen Ärzten wird sie mit neuen Schmerzmitteln abgefertigt. Von einer Röntgenaufnahme oder weiterführenden Untersuchungen wird grundlegend abgesehen, da man sie für unnötig hält.
Violetas Schmerzen bleiben. Im Februar 2016 wird sie notfalls in das lokale Spital "Clínica Antofagasta" eingeliefert. Doch auch im Spital wird sie nicht weiterführend untersucht. Die anhaltenden Schmerzen ihrer Tochter verunsichern Ávalos jedoch zutiefst und sie verlangt eine Röntgenaufnahme. Die Ärzte wimmeln sie wieder ab und sie muss sich mit einem Ultraschall begnügen. Obwohl die Mutter mehrmals insistiert, wird Violeta nach zwölf Tagen mit anhaltenden Schmerzen entlassen.
Mangelhafte Versorgung in Chiles Provinzen
Aus einer Studie der Vereinten Nationen (2018) geht hervor, dass die Verteilung der Fachkräfte im öffentlichen und privaten Bereich in Chiles Regionen sehr unterschiedlich ist. Durch ihre "Isapre"-Versicherung hat Ávalos einen grundsätzlich besseren Zugang zu Spezialisten. Laut eines Mitarbeiters* des chilenischen Gesundheitsministeriums aber, sei allgemein bekannt, dass je weiter die Region von Santiago de Chile entfernt ist, desto mangelhafter ist die Qualität der ärztlichen Versorgung – auch im privaten Sektor.
Jährlich würden Stichproben durchgeführt, die diese Tatsache bestätigen. Im privaten Bereich würde zudem grundsätzlich zu wenig überprüft, ob der praktizierende Arzt wirklich Spezialist auf seinem Gebiet sei, auch wenn er bei der Gesundheitsbehörde registriert ist. Über die Beschaffenheit der medizinischen Infrastruktur sowie die Professionalität im privaten Bereich gibt es deshalb auch keine Studien, so der Mitarbeiter.

«Mama ist nicht am Krebs gestorben, sondern an ihrer Armmut» - Eine Demonstrantin in Santiago de Chile – Foto: Alexis Ramírez Obando †
Nach dem zwölftägigen Spitalaufenthalt von Violeta beginnt die verunsicherte Ávalos ernsthaft an den Diagnosen und Kompetenzen der Ärzt*innen zu zweifeln. Sie fühlt sich im Stich gelassen. Kurz darauf, an einem Freitag im März 2016, fliegt sie mit ihrer Tochter nach Santiago de Chile, den Flug bezahlt sie selber. Da sich die Schmerzen von Violetta noch immer im Bereich der Gebärmutter bemerkbar machen, besuchen sie am Morgen einen Gynäkologen der "Clínica de la Universidad Católica" sowie um Weiteres auszuschliessen, einen Spezialisten für Gefässmedizin in der "Clínica las Condes". Beide Krankenhäuser sucht sie sich aufgrund von Empfehlungen ihrer Bekannten aus.
Diagnose Krebs im Endstadion
Nach ausführlichen Gesundheitschecks in beiden Kliniken am Vor- und Nachmittag erhält Ávalos die traurige Diagnose: Die 15-jährige Violeta hat Krebs im Endstadium. Der Gebärmutterhalskrebs hat bereits Ableger im Magen und in der Lunge gebildet. Obwohl klar ist, dass Violeta sterben wird, entschliesst sich die Mutter für eine Chemotherapie, um die Schmerzen des Mädchens zu lindern. Die Therapie beginnt am Tag darauf. Ávalos hat das Vertrauen in die Ärzte ihrer Heimatstadt verloren und bleibt in Santiago de Chile.
Um die Zeit in der Hauptstadt zu überbrücken, mietet die Mutter eine Wohnung auf eigene Rechnung. Violeta verstirbt acht Monate später am Krebs. Zurück bleibt der Schmerz über den Verlust der Tochter sowie eine Unsumme an Schulden. Da Ávalos ausschliesslich Privatkliniken und private Ärzte besucht hat, summieren sich die Kosten der Behandlung und den unzähligen Arztbesuchen auf etwa umgerechnet 30‘000 Franken, diesen Betrag kann sich auch Ávalos trotz ihres Anwaltsgehalts nicht leisten. Sie stellt einen Antrag auf Kostenübernahme bei ihrer Versicherung - er wird abgelehnt.
Chiles "garantierte" Gesundheitsversorgung
Die "Isapre" begründet den Entscheid damit, dass Violeta bei Erhalt der Krebsdiagnose bereits über 15-Jahre alt war und somit nach "Plan AUGE – Plan Acceso Universal con Garantías Explícitas" heute "Las Garantías Explícitas en Salud (GES)" kein Anrecht auf Übernahme der Kosten hat.
"Las Garantías Explícitas en Salud (GES) ehem. Plan AUGE"
Der chilenische Staat will mit "Las Garantías Explícitas en Salud (GES)" einen rechtzeitigen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen garantieren. Für eine bestimmte Anzahl von Krankheiten unter gewissen Bedingungen soll "GES" den Eigenanteil der Versicherten begrenzen und eine bezahlbare und Gesundheitsversorgung in einem angemessenen Zeitraum sicherstellen: Beispielsweise Krebs bei unter 15-jährigen, die Volkskrankheit Diabetes oder Hepatitis. Der Nationale Gesundheitsfonds und die Gesundheitseinrichtungen der Sozialversicherung müssen diese Garantien für ihre jeweiligen Begünstigten zwingend gewährleisten, da sie eine gesetzliche Leistung darstellen.
Da Ávalos sich bewusst ist, dass Violeta vom "GES" nur aufgrund von zig ärztlichen Fehldiagnosen ausgeschlossen wird und nicht durch ein Selbstverschulden, fechtet sie den Entscheid der Versicherung vor Gericht an – sie vertritt sich selber, da das Geld für einen externen Anwalt fehlt. Es gelingt ihr schlussendlich zu beweisen, dass die späte Diagnose des Krebses auf die Nachlässigkeit der Ärzte in Antofagasta zurückzuführen ist, da Violeta bei der Erstkonsultation erst dreizehn Jahre alt war. So werden ihr nach einem ganzen Jahr des Kämpfens umgerechnet 13‘000.00 Franken von ihrer "Isapre" rückvergütet – ein Drittel der Gesamtsumme.
Dass man ihre Tochter mit einer rechtzeitigen Behandlung vielleicht hätte retten können, sei dahingestellt. Vier Jahre später weiss Ávalos nicht, woher sie die Energie für ein gerichtliches Verfahren hatte. Sie leidet aufgrund des plötzlichen Versterbens der Tochter unter einer schweren Depression und versucht sich das Leben zu nehmen – ihre Freunde finden sie im letzten Moment. Bis heute hat sie sich nicht wirklich erholt und braucht eine starke Medikation, um ihren Alltag zu bewältigen.
So wie ihr geht es in Chile Tausenden. Zudem verfügt die Mehrheit der Bevölkerung nicht über die gleichen finanziellen Mittel wie Ávalos. Wo es im privaten Sektor an Professionalität und Kontrolle mangelt, können sich die öffentlich Versicherten den Zugang erst gar nicht leisten und sterben leise und ohne medizinische Versorgung. Obwohl also in Chile das System der "freien Wahl" der Versicherung besteht, haben nur Zahlungskräftige Zugang zu einer akzeptablen Gesundheitsversorgung - und selbst diese ist mangelhaft, wie es der Fall von Ávalos zeigt.
Mangel an Fachkräften im zentralistischen Chile
Nach Angaben des Chilenischen Gesundheitsministeriums mangelt es 2019 im öffentlichen Bereich an insgesamt 4‘900 Fachärzt*innen, um im ganzen Land eine angemessene Versorgung zu gewährleisten. Die Mehrheit der Ärzt*innen praktiziert in Santiago de Chile. Im Juni 2019 standen im ganzen Land mehr als 1,5 Millionen staatlich Versicherte auf einer Warteliste, die auf die Versorgung durch eine:n Spezialist:in warteten.
Geschichten von Menschen, die gestorben sind, während sie auf einen Termin oder Operation warteten, werden zu Hunderten erzählt. Zwischen Januar und Juni 2018 verstarben nach Angaben des Gesundheitsministeriums insgesamt 26'000 Menschen auf dieser Warteliste davon 9‘724 Menschen mit einer "garantierten und rechtzeitigen Versorgung".
Da Krebs in Chile die zweithäufigste Todesursache ist und in sechs Regionen des Landes sogar die erste, unterzeichnete Präsident Sebastián Piñera letztes Jahr das Gesetz "Claudio Mora" zur Bekämpfung der Krankheit.
Arbeiten in den Regionen soll attraktiver werden
Im Gesetz enthalten sind unter anderem Onkologiestipendien zur Ausbildung von mehr Krebsspezialisten. Zudem soll das Arbeiten in den Regionen attraktiver gemacht werden, damit Ärzt*innen ermutigt werden, in verschiedenen Regionen zu arbeiten, anstatt in Santiago zu verbleiben. Im öffentlichen Sektor soll die Infrastruktur bis 2025 zudem komplett erneuert werden. Die vom Repräsentantenhaus genehmigten Gelder zur Umsetzung des Gesetzes werden aber von verschiedenen Seiten als unzureichend kritisiert.
Das privatisierte Versicherungssystem aus der Militärdiktatur Pinochets von Anfang der 80er-Jahre besteht bis heute fort. Bis auf die Einführung (2005) des heutigen "GES"-Plans wurde daran seither nichts verändert. Um die Versorgung im öffentlichen System nach "GES" zu gewährleisten, werden Leistungen im privaten Sektor eingekauft, anstatt dass der Staat mehr in die öffentliche Infrastruktur investiert. Der öffentliche Sektor finanziert also sozusagen den Privaten. Daraus resultiert, dass über 80 Prozent der Chilenen in der Realität durch das öffentliche System betreut werden, mehr als die Hälfte der Gesundheitsausgaben aber an den privaten Sektor gehen. So werden dieses Jahr rund 140 Millionen Franken der "Fonasa" für die rund 283'000 Menschen auf den Wartelisten bereitgestellt, da sich wegen der Pandemie die meisten Operationen über ein Jahr verzögern. Das Geld fliesst dabei auch an private und gewinnorientierte Institute.
Grundlegende Reform gefordert
Wegen Fällen wie der von Violetá ist die Gesundheitsversorgung in Chile ein häufig diskutierter Punkt bezüglich Erarbeitung einer neuen Verfassung Chiles. Je nachdem, wer in das Verfassungskonvent gewählt wird, steht der des Rechtes auf Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit ganz oben oder ganz unten auf der Liste. Vonseiten des aktuellen Parlaments ist jedoch keine grundlegende Reform des bestehenden Systems zu erwarten, denn Präsident Piñera ist mit der Impfung der chilenischen Bevölkerung gegen Covid-19 beschäftigt. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass in Chile die Covid-19 Todesrate pro 100'000 Einwohner*innen mit 100 Toten täglich bei 143,5 liegt und damit den Zahlen der USA (151,5) gleicht.
Kritische Stimmen in Chile behaupten, dass die Pandemie-Massnahmen sowieso nur dafür eingesetzt werden, um die Demonstrationen einzudämmen. So werden bei hoher Auslastung der Intensivstationen nur bestimmte Gebiete im Zentrum Santiagos mit einer Ausgangssperre belegt (März 2021), während andere Bezirke ausserhalb offenbleiben.
*Name der Autorin bekannt.